Abschied 9

Yu war an einer Bushaltestelle, um einen Dormuş, ein Sammeltaxi, zu einem nicht weit entfernten Hotel zu fahren. Dann sah er, dass Dutzende von Fahrgästen aus einem Bus stiegen und sich in anstehende Dormuş stürzten. Zu seiner Überraschung lächelte ein mittler Mann Yu an und sagte auf Englisch: „Es ist mir peinlich, aber es ist immer so”. Yu erwiderte ihm mit Lächeln. Schließlich entschied er sich, ein Adressenzettel in der Hand mehrere Straßen quer hindurch, zu dem Hotel zu Fuß zu gehen. Wegen der Lage und der Größe erinnerte der Stadtteil ihn an eine typische japanische Neusiedlung. Das kleine zweistöckige Gasthaus im westlichen Stil hatte einen schönen Blick auf das Meer. Yu ließ sein Gepäck im Hotel zurück und wollte die Stadt , wo Deniz lebte, besuchen. Sie sollte von dort nicht weit entfernt sein. Auf dem Weg zu einer kleinen Bushaltestelle sah er einige amerikanische Pick-up-Trucks aus den 1950er Jahren ohne Reifen am Straßenrand ausgesetzt, genau wie in einem Film, den er früher im Fernsehen gesehen hatte. Yu fragte sich, wer sie gefahren hatte und wie lange sie hier schon stehen gelassen waren. Wegen des Busses, der nur alle zwei Stunden kommt, lief Yu ziellos umher und vertrieb sich die Zeit so am Strand in der Nähe der Bushaltestelle. Als die Zeit gekommen war, kehrte er zu der kleinen Bushaltestelle zurück, wo mehrere Leute auf den Bus warteten, der mit Verspätung ankam.

Nach einer Weile verschwanden die spärlichen Häuser bald nach hinten und der Bus fuhr erst auf einer Ebene mit kahler, hellbrauner Erde, dann etwa eine Stunde lang über kurvenreiche staubige Straßen auf einer hügeligen Gegend. Schließlich kam der Bus an einer Bushaltestelle mit einer Hütte auf einem Hügel an. Dort saßen fünf oder sechs Männer zwischen 20 und 60 Jahren und tranken Chai. Sie schienen von einem Ausländer, der plötzlich vom Bus ausstieg, überrascht zu sein, aber einer von ihnen, ein dunkelhäutiger bärtiger Mann in den Dreißigern, fragte ihn neugierig, woher er komme. Als Yu in gebrochenem Türkisch antwortete, dass er aus Japan kam, schauten sie ihn alle beeindruckt an und stellten ihm noch einige Fragen. Yu antwortete aufgrund seiner Vermutung, aber sie schauten alle neugieriger als zuvor, wollten wissen, warum er überhaupt hierhergekommen war. Yu verstand nicht, was sie sagten, so fragte er, ob er ein Foto von ihnen machen könne, woraufhin sich alle sofort seiner Kamera zuwandten. Yu entschuldigte sich, dass er gehen müsse und verabschiedete sich. Er ließ die noch neugierig ihn ansehende Männer zurück und machte sich auf den Weg in die Stadt.

Es war nicht schweißtreibend, aber die starke Sommersonne warf das scharfe Licht auf die mit einem weiß-grauen gepflasterten Straßen, und das reflektierte Licht ließ die Stadt so weiß wie eine überbelichtete Fotografie aussehen. Viele der drei- und vierstöckigen Gebäude, die die Straßen säumen, sehen verblasst, alt und ungepflegt aus, aber aus ihren rötlich-braunen Wänden verriet etwas von einer Yu unbekannten Geschichte. Die Wand schien zu fragen, was du mit mir zu tun hast, warum du überhaupt über meine Geschichte wissen willst. Aber Yu murmelte der Wand zu, dass er aus einem bestimmten Grund hierherkommen musste. Die Wand tat so, als ob sie ihn nicht hörte, und versuchte immer noch, ihn einzuschüchtern. Yu bog um eine schmale Ecke und ignorierte die Wand. Mehrere Menschen liefen die Straße entlang. Die türkischen Schilder an den gepflasterten Straßen und Geschäften, die bröckelnden Dachziegel, der grüne Efeu, der sich an den Wänden der gelb gestrichenen Gebäude festklammerte, die älteren Frauen, die mit Einkaufstüten liefen, all das wirkte so natürlich und doch gleichzeitig so fremd, dass Yu sich wie ein Spion fühlte, der aus einem außerirdischen Planeten geschickt war und die Erde beobachten sollte.

 Noch vor einigen Jahren hatte er in deutschen Zeitungen Artikeln über Terrorismus, verschiedene gewalttätige Vorfälle und eine unglaubliche Inflation in der Türkei gelesen, aber davon war hier nichts zu spüren. Yu wandelte ohne Stadtplan vor sich hin, wollte nur wissen, in welchem Stadtteil Deniz geboren und aufgewachsen war. Bevor er abgereist hatte, lud er sie ein, mit ihm zu reisen, aber natürlich zögerte sie, mit ihm zu kommen. Er wollte sie nicht weiter überreden, weil er gleich einsah, dass es sie mehr in die Ecke treiben würde. Also kam Yu allein. Doch statt der islamischen Stadt, die Yu sich vorgestellt hatte, war es eine eher gewöhnliche Stadt, in der keine Moschee zu sehen und kein Azan zu hören war, eine Stadt, die überall in der Welt zu sehen war. Im Sonnenschein saßen manchmal Männer auf Stühlen in den Dachvorsprüngen der Häuser. Sie trunken Chai. Die Stadt war noch in der Hitze und Yu war nicht klar, ob dies die Ursache für Deniz, aus dieser Stadt wegzuziehen. Yu hatte Deniz’ Adresse und dachte, dass ihre Mutter irgendwo in der Stadt lebt. Jedoch wollte er sie freilich nicht von seinem Besuch überraschen. Sowieso hatte er keine Ahnung, wo er war. Es war unmöglich, die ganze Stadt in nur wenigen Stunden herumzulaufen. Tatsächlich schien die Stadt viel größer zu sein, als Yu dachte.

Die Stadt ohne Deniz war für ihn fast unzugänglich, Trotz großer Erwartung fühlte er sich doch gleich enttäuscht. Es sah wie eine lange vergessene Heimat aus. Sie ist nichts Prächtiges und Erregendes, doch sie existiert still und unauffällig da. Am Ende ist jede Heimat kein reales Dasein, sondern der Ursprung von Hoffnung und Traum, der wie eine flimmernde Flamme jede Zeit ausgepustet wird. Er fühlte es jedes Mal, wenn er seinen Vater besuchte. Er sah tausendmal und wusste alles, was dort ist. Sie sind für ihn alle Banales; Ein veralteter dunkel-hölzerner Torflügel, der in den Regen gebeutelt und schräg lag, ein alter moosbewachsener Pflaumenbaum mit merkwürdig gewundenen Zweigen, ein halbgebrannter verrußter Kerzenstummel am Hausaltar, ein ungewaschenes Glas im Spülbecken der Küche, eine schlafende Katze auf dem verfärbten Sitzkissen. War es der Grund, warum er ein ähnliches Gefühl hatte, obwohl der Ort die Heimat von Deniz war? Hatte er zu viel erwartet? Er erinnerte sich an eine Stadt, an der er vorbeifuhr.     

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