Abschied 10
Am Tag zuvor erreichte der Bus eine Stadt, die Endstation. Yu wusste kaum von der Stadt und verbrachte eine Nacht. Der Name der Stadt erinnerte ihn bald an ein kleines Messer, das er einmal von einem Verkäufer in einer Straße in Istanbul gekauft hatte und auf dessen Klinge der Name der Stadt eingraviert war. Vom Fenster seines Hotelzimmers im dritten Stock aus sahen die orangefarbenen Dächer in Hitzeflimmern wie schwingende Wellen und tönten die Stimmen des Gottesdienstes, der gerade begonnen hatte. Hunger verspürend ging Yu aus und beschloss, einen Rundgang durch die Stadt zu machen. Er betrat den Eingang eines Ladens an einer Straßenecke. Im Inneren befand sich ein riesiger Raum mit unzähligen Geschäften, die alle durch breite Gänge miteinander verbunden waren, gefüllt mit Obst, Gemüse und einer Vielzahl von Lebensmitteln. Steingänge verbinden die Gebäude mit Springbrunnen, kleinen Gärten und bunten Blumen. Trotz exotischer Gewürze und Duft sah die Stadt fast genauso aus wie eine westliche Stadt. In der Mitte der Straße, die zur Stadtmitte führte, waren in regelmäßigen Abständen große Fahnen mit Buchstäben an Stangen aufgehängt. Endlich kam er zu einem großen Festplatz. Dort gab es einen Teich, Sportanlagen und viele junge Leute, die sich dort um mehreren Verkaufsbuden versammelte. Yu wusste nicht, um was für ein Fest es sich handelte. Später wusste er, dass diese Stadt schon seit der Römerzeit existierte und im 14. Jahrhundert in das Osmanische Reich eingegliedert und die Hauptstadt des Reichs wegen ihrer geopolitischen Rolle wurde. Sogar wurde die Stadt von Timur zerstört. Yu fühlte eine Arte von Affinität mit Europa und dachte, dass die Affinität von der multikulturellen Begegnungen der Stadt hergerührt würde. Im Vergleich dazu war Deniz’ Heimatland eher eine Stadt, die im Angesicht der langen Geschichte am Schwarzen Meer eher friedlich schlummerte.
Yu erinnerte sich wieder an eine erdrückende Atmosphäre in seinem Dorf. Als Kind erweckte zwar der Geruch der Reisfelder, strahlender Sonnenuntergang am Himmel, Gewitter, das mit einer Wasserwolke heranbrausten und der Blitz, der Transformator an den Leitungsmasten mit einem schrecklichen Lärm traf oder Bäume, die bei Taifunen fast umkippten, ihn ins Gefühl, mit diesen Naturgewalten eins zu werden, aber seit er Student war, hatte er eher ein Gefühl, als würde er in Gefangenschaft genommen, Yus Vater hatte immer gehofft, dass Yu mit ihm leben würde, aber das schien Yu völlig unmöglich. Das kam nicht wegen der Örtlichkeit. Jedoch empfand Yu manchmal das Gleiche, selbst wenn er in der Stadt lebte. Vielleicht ging es um unsichere Zukunftsperspektive. Natürlich könnten ihm große Städten mehr Möglichkeiten für Zukunft anbieten. Gleichzeitig könnten sie wegen der Vielfalt ihn verblenden. Auf jeden Fall konnte er in seiner Heimat keine Ruhe mehr finden. Ebenso fand er nur vage Angst, egal, wo er sich befand.
Während er vor sich hin in weitschweifigen Gedanken versunken ging, merkte er, dass der Bus bald kommen würde. So wandte er sich zur gleichen Bushaltestelle auf einem Hügel. Dort fand er die gleichen Leute immer noch reden. Aber als er sie mit einem Lächeln begrüßte, begrüßten sie ihn mit ernsten Gesichtern. Er wunderte sich, dass sie den ganzen Tag dort sind. Sicherlich warteten sie nicht auf den Bus, vielleicht auf ein Wunder, so dachte Yu plötzlich, das sie von ihrer Langweile befreien könnte, was jedoch nie kommen würde. Das Hotel verließ er am nächsten Tag und stieg wieder in den Bus nach Istanbul ein. Ein großer Schaffner streute Passagiere Rosenparfüm auf die Hände. Der Bus duftete nach Rosa.