Begegnung 21
In der Tat schien es wie die Welt von Ali Baba. Bunt leuchtende Mosaik-lampen, die das Schaufenster völlig bedeckten, aufgehäufte teure Teppiche, alle mögliche, exotisch riechende Gewürze, traditionelle schöne Trachten… Wasserverkäufer mit traditionellen knallig roten Samtwesten und weißen lockeren Hose gingen schreiend vorbei. Yu wunderte, ob er um Realität oder um kommerzielle Attraktion geht. Ihm schien, dass hier Reales und Unreales untrennbar und nahtlos gewogen waren.
Yu wollte Schmuckstück für Deniz kaufen. Jedoch war er ratlos vor einer Menge Juwelierläden, die mit allerlei Gold und Edelsteinen überfüllt ausgestellt waren. Die goldenen Strahlen von den Läden wollten ihn fast wegjagen. Sowieso konnte er nichts Teures leisten, so suchte er etwas Simples durch das Schaufenster. Armbänder und Ohrringe sprangen in seine Augen. So trat er ins Geschäft ein. Sobald er im Geschäft war, war er mehr verwirrt unter dem unsagbaren Druck von üppigem Schmuckstück-Geist in diesem Land, was ihn erneut zu entfremden schien. So entfloh er von dem Laden. Vor Nervosität schwitzte er. Er lachte sich über seine Kleinmütigkeit. Endlich trat er entschieden in einen anderen Laden ein und griff schnell ein Paar Goldohrringe und zwei silberne Armbänder, während der ausgediente Ladeninhaber mit Turban auf dem Kopf sich mit anderen Kunden unterhielt. Er ging zur Kasse, bezahlte, ohne Preisnachlass auszuhandeln, und verließ den Laden. Dann fühlte er eher Scham- als Erfolgsgefühl. Das war sein erstes abenteuerliches Erlebnis in Istanbul. Als er endlich den Bazar verließ, fühlte er Hunger. Die Straßen auf dem Weg nach seinem Hotel waren immer noch voll von Touristen. Vor einem Restaurant nahm er auf einen Stuhl Platz. Während er auf Essen wartete, hörte er Leute in vielen Sprachen sprechen und lachen. Nun fühlte er aus tiefster Seele, dass er im Ausland war und wollte dies nicht vergessen.
Am nächsten Tag besichtigte Yu Topkapı Palast. Als er vom Marmorbalkon des riesigen Palasts den fernen Bosporus herabsah, nahm er die reale Existenz eines mächtigen Reichs wahr, das die Welt weit und breit gnadenlos herrschte. Hat das jedoch etwas mit Deniz zu tun, dachte er. Die gegenwärtige Türkei ist sicher historisch auf das Osmanische Reich zurückzuführen, jedoch hat sie wohl nichts mehr mit der Herrschaft und Pracht des Landes zu tun. Selbst sie würde sich dessen nicht bewusst sein. Oder ist sie unweigerlich ein Kind der Geschichte wie alle andere? Man wird von jeder Kultur anders ernährt, auch wenn man es nicht merkt. Yu dachte, dass er wohl eine andere Seite von Deniz kennengelernt hat. In Ausland sieht man Ausländer als Menschen, denen die Geschichte des Gastlandes fehlt. Jedoch Ausländer haben freilich eigene Geschichte, die die Leute des Gastlandes nicht kennen. Sogar haben sie doppelte Geschichten, die eigene und die neue des Gastlandes. Ausländer träumen einen Traum, den die anderen nicht träumen. Yu wunderte, ob Deniz und Yu beide als Ausländer einen gleichen Traum träumen könnten.
Ein Kursbuch von Thomas Cook in der Hand reiste Yu aufs Geratewohl. In der Nacht oder im Zug recherchierte er Jeden Tag das nächste Reiseziel. Alsbald er das Ziel erreichte, ging er zur Information und suchte eine Unterkunft. Wegen dieser unorganisierter Weise verschwendete er viel Zeit. Nach dem Besuch von Istanbul hatte er sowieso kein richtiges Ziel mehr. Er wollte nur ein Zeit haben, um über seine gegenwärtige Lage nachzudenken oder sich davon zu befreien. Jedoch langweilte er sich unterwegs nie. Im Bus oder Zug beobachtete er, ein Pokerface tragend, ständig sich verändernde Landschaften durchs Fenster, verschiedene Leute von aller Klassen in verschiedenen Kleidungen ein- und aussteigen, hörte unerhörte Sprache gesprochen, Geräusch von anhaltendem Zug, roch Parfüm von Frauen, Gewürze in einem Gepäck, Schweiß oder Öl, als ob ein Film direkt vor ihm live spielte.