Begegnung 8

Der Bus brauchte einen halben Tag, um wieder heimzukehren. Im Licht des blau-dunklen, noch warmen Abendhimmels war die Sonne dabei, im fernen orangen Horizont zu sinken. Auf der Rückfahrt versuchte Yu, sich wieder daran zu erinnern, was ihm während seiner Reise nach Berlin alles passiert hat. Er hatte ein Gefühl, als ob es nur ein vorübergehendes Geschehen gewesen wäre. Andererseits konnte er jedoch nicht leugnen, dass tief in seinem Inneren eine neue Hoffnung geboren worden war, die er nie zuvor gespürt hatte. Er erinnerte sich, dass auf einer Raststätte auf dem Weg von Berlin eine koreanische Studentin, die Yu das Studentenwohnheim vermittelt hatte, ihm vor den Anwesenden vorwarf, dass er mit einer anderen Frau befreundet war, obwohl er verheiratet war. Yu, der so sehr in sich selbst vertieft war, war überrascht, dass die anderen die Sache so sahen, aber er war nicht verärgert und hörte sich die Anschuldigungen schweigend an. Das war nicht zu leugnen. Er wusste, dass die Studentin mit einem Deutschen befreundet  war. Yu dachte absichtlich, sie und Yu im selben Boot saßen im Bezug auf zufälliger Partnerschaft, obwohl er zufällig verheiratet war. Die Veränderung in Yu, auch wenn er nur subtil fühlte, schien jede Kapillare in seinem Körper zu durchdringen. Er sagte vor sich, dass er noch ein wenig den Ablauf der Sache abwarten und versuchen müsste, seine Gefühle zu kontrollieren.

Nach der Reise nach Berlin waren Tage vergangen, ohne dass Yu Deniz begegnete. Keiner von ihnen kannte die Adresse oder die Telefonnummer des anderen. Yu begann sich zu fragen, ob das Treffen eine einmalige Sache gewesen wäre. Selbst wenn Deniz Yus Telefonnummer hätte, hätte sie ihn natürlich nie angerufen. Im gemeinsamen Speisesaal des Studentenwohnheims gab es nur ein Telefon, und Deniz muss gewusst haben, dass Yu mit seiner Frau wohnte. Würde das Leben wieder zurückgesetzt werden, zurück zur Routine des Alltags, die er kannte? Wenn ja, so begann Yu zu denken, wäre das vielleicht keine schlechte Sache. Er erinnerte sich, dass er einmal dachte, ob es möglich sei, dass er von einem Berggipfel hier zu einem großen Berg dort überspringen könnte. Müsse er nun einen solchen Sprung machen? Jedoch solle er das Land in einem Jahr verlassen. Das könnte Deniz verletzten, wenn ihre Beziehung weiter gehen würde. Er dachte, dass er besser sie nun aufhöre, und selbst wenn er das tue, würde es noch niemanden viel betrüben. Aber was sage Deniz dazu? Denke sie auch so? Versuche sie absichtlich, Yu nicht zu treffen? Auch wenn man in einem fremden Land lebe, so hörte Yu, dass die islamischen Vorschriften zwischen Männern und Frauen streng seien, und sie müsse das sicher besser als jeder andere wissen. Wenn sie in Ruhe darüber nachdenke, sei es klar, dass sie denke, dass ihre Beziehung in keiner Weise wünschenswert sei. Während er darüber nachdachte, hoffte Yu auch, dass das Problem verschwinden würde, wenn die Zeit stillstehen würde.

Ein paar Tage später sah Yu Deniz mit einer Freundin im Universitätsgebäude gehen. Yu winkte ihr mit der Hand. Dann kam Deniz lächelnd zu ihm und fragte: “Wie war es dir ergangen?”  Er war nicht sicher, ob es sich um eine Art Begrüßung, wie man sie zu jeder Person sagen würde, oder eine besondere, die sich ihre schwankende Haltung ihm gegenüber nicht anmerken lassen wollte, handelte. So zögerte Yu einen Moment, bevor er sich entschied, wie er antworten sollte. Aber als er in ihrem Lächeln etwas Vertrautes spürte, war er sich sicher, dass es Letzteres war. Die beiden unterhielten sich eine Weile, was ihnen nach der Reise geschieht. Sie sagte, dass sie sehr beschäftigt war. Spontan fragte Yu sie nach der Zimmernummer und der Telefonnummer ihres Studentenwohnheims, was ihn selbst überraschte. Unverzüglich nahm sie ein Notizbuch heraus, schrieb ihre Adresse darauf, zerriss den Zettel und reichte ihn Yu. Das schien ein Zeichen dafür zu sein, dass sie bereit war, die Beziehung mit ihm fortzusetzen, und Yu schaute ihr wiederum mit ein bisschen Verwirrung kurz in die Augen, um zu bestätigen, ob sie ernst sei, weil Yu fühlte, dass sie damit irgendwie ihm freie Hand gab. Sie blickte dann seine Augen zurück.

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