Begegnung 11
Eines Tages schlug Deniz Yu vor, zu einem Kurort in der Nähe der Stadt zu fahren. Der Ort soll für seine Salzproduktion und salzhaltige heiße Quelle berühmt sein. Yu wollte einen Mietwagen fahren, da er gerade einen Führerschein gemacht hatte. Deniz war jedoch von der Idee nicht begeistert, weil sie sich vor einem Unfall fürchtete, denn Yu gar nicht Auto fuhr, seitdem er den Führerschein gemacht hatte. Einige Tage später trafen sie sich frühmorgens am städtischen Busbahnhof und stiegen in den Bus. Yu sah sich unwillkürlich um, um zu beobachten, ob ihr Bruder oder jemand anderes ihnen folgte, aber Deniz saß unschuldig glücklich in der Ecke des Busses. Deniz hatte Ziegenkäse-Tomaten-Sandwiches mit deutschem Brot gemacht. Im Bus waren viele ältere Menschen, da es sich um einen Kurort handelte. Sowohl Yu als auch Deniz konnten immer noch kaum glauben, dass der Ausflug wirklich in die Tat umgesetzt worden ist. Die Worte ‘verbotenes Vergnügen’ gingen Yu durch den Kopf, aber er wollte den Gedanken ignorieren, denkend, dass die Situation sowieso nicht so ernst war und dass sie immer noch nur Freunde waren. In der Tat waren die beiden wegen ihrer heiklen Situation etwas distanziert, und bis dahin gab es zwischen ihnen nichts anderes als ein Gespräch. Jedoch war Yu gleichzeitig überzeugt, dass die Beziehung zwischen ihnen nicht so auslaufen würde, wie es jetzt war.
Deniz und Yu blickten aus dem Fenster die weiten Felder und Wälder, die sich schnell nach hinten zurück flogen. Gelegentlich hielt der Bus an und jedes Mal stiegen einige Leute ein. Innerhalb von zwei Stunden erreichte der Bus das Ziel. Die frühe Herbstsonne schien noch hell, hier und da warfen grüne Bäume mit silbrigem Licht ihre Schatten, und entlang der kleinen Stadt erstreckten sich große Sümpfe mit tief-grünem Wasser. Dicke, lange, hohe braune Mauern aus feinen Ästen, die einst zum Filtern von Salz verwendet wurden, standen hier und dort in der Stadt, und entlang der Hauptstraße waren imposante Fassade der Kurhäuser zu sehen. Yu hatte eine vage Vorstellung von dem Badeort, in dem Menschen in Badeanzügen durch die Straßen liefen, aber er schämte sich seiner Naivität, als er sah, dass die Männer mit Fliege aus dem Badehaus heraus und hinein gingen. Was Deniz betraf, schien sie sich auch nicht so wohlfühlte, weil es zu förmlich aussah. So hatten sie keine Lust, viel Geld für den Eintritt in irgendein Badehaus zu bezahlen. Die beiden hatten keinen besonderen Plan, und da sie ohnehin für einen gemeinsamen Ausflug kamen, machten sie eine Runde durch die Stadt. Sie liefen auf einem schmalen, von Bäumen gesäumten Weg um einen willkürlich angelegten Sumpf herum. Der Weg führte schließlich in die Mitte eines großen Sumpfes, wo sie an mehreren Passanten an der Kreuzung vorbeikamen. Einige von ihnen warfen einen lächelnden oder neugierigen Blick über das ungewöhnliche Paar. Yu machte ein Paar Aufnahmen von ihr mit seiner Kamera, und Deniz lächelte vor lauter Freude. Gleichzeitig fragte sich Yu aber auch, was er mit den Fotos machen sollte, die er niemandem zeigen konnte. Die Zeit verging schnell. Nach einem späten Mittagessen mit Käsesandwisches war es fast die Zeit, heimzukehren. Sie hatten nichts unternommen, aber auf ihrem ersten gemeinsamen Ausflug spürten sie, dass sie ein gemeinsames Gefühl teilten. Yu spürte, dass das Gefühl der Sackgasse, das er seit langem oft in Deutschland hatte, nach und nach nachließ und ein erfrischender Windstoß durch ihn wehte.
Nun dankte Yu für die Gelegenheit, dass er jetzt nicht nur Deutsch, sondern neue Menschen aus verschiedenen Ländern kennenlernen konnte, so dass er von ihnen verschiedene Erfahrungen sammeln konnte. Aber er wird bald in sein Heimatland zurückkehren und sich wieder in seinem ehemaligen Milieu niederlassen. Dann, so fürchtete er, würde alles, was er erfahren hatte, in reine Erinnerungen verwandeln und sogar in Vergessenheit geraten. Er fühlte sich ängstlich und leer, als würde er die Veränderung, die vielleicht in ihm geschehen hatte, vor den Augen verschwinden. Er hörte oft, dass unterschiedliche Erfahrungen, die man in einem fremden Land machte, in der Zukunft nützlich sein sollte. Yu war jedoch nicht sicher, dass die Veränderungen, die er jetzt spürte, in seiner ehemaligen Umgebung weiter gelten würden.
Es war nicht sein Ziel, als Revolutionär die Gesellschaft umzuwälzen, sondern seine innere Veränderung, eine persönliche Revolution. Jedoch, wenn nur Yu sich verändern und die Gesellschaft sich nie verändern würde, würde sicherlich eine Spannung zwischen ihm und der Gesellschaft entstehen. Dann müsste er mit dem fortdauernden Dilemma leben. Vielleicht wäre es sinnvoll, weil man die Sache von einem anderen Blickwinkel aus sehen könnte, was vielleicht die Veränderungen der anderen zur Folge haben würde. Jedoch, wie kann man sich überhaupt erst verändern? Man könnte sich nie von sich selbst verändern, selbst wenn man wünscht. Die Selbstveränderung sollte von außen kommen, und zwar unerwartet und irgendwie gewaltsam, denn man befürchtet solche Veränderung. Man braucht einen großen Sprung vom Absturz.
Yu hatte manchmal die Möglichkeit, in Deutschland zu bleiben, in Betracht gezogen. Das war schon damals keine Seltenheit. Aber er fragte sich auch, was er in einem fremden Land tun könnte. Mit seinen Sprach- und Literaturkenntnissen könnte er Japanischlehrer werden. Aber das war nicht das, was er wirklich tun wollte. So bereute er, dass er einen längerfristigen Plan vorher nicht gemacht hatte. Vom Anfang an war er davon ausgegangen, dass er nach seinem Auslandsstudium gleich nach Hause zurückkehren würde. Inzwischen geschah etwas Unerwartetes und Deniz zeigte ihm einen anderen Weg aus einer ganz anderen Richtung. Er dachte, dass er sich ohne Grübeln direkt von innen heraus verändern werden könnte, da nun etwas Magisches, ihm etwas Unmögliches möglich zu machen, plötzlich widerfuhr. Dabei handelt es sich nicht um rationale Überlegung, sondern um eine unvorhersehbare Veränderung. Würde es nur eine Täuschung?
Deniz besuchte ihre Familie in der naheliegenden Stadt ein- bis zweimal pro Woche. Sie konnte niemandem von ihrer Beziehung mit Yu erzählen, aber eine Tante von ihr bemerkte anscheinend Veränderungen bei Deniz, auch wenn sie keine Details kannte. Deniz verzögerte sich, zu ihr das Geheimnis zu erzählen. Deniz hatte seit der Berlin-reise auch eine Freundschaft mit Ayse vertieft. Sie ist zweisprachig in Deutsch und Türkisch und lebte seit ihrer Kindheit in Deutschland. Sie wurde jetzt für Deniz die einzige Person, mit der Deniz alles reden konnte. Sie kannte die Dilemma zwischen zwei verschiedene Welten, akzeptierte und mitfühlte Deniz’ Situation. Auch machte sie auch Yu keine Vorwürfe. Im Gegenteil lud sie die beiden zu ihr ein, kochte ihnen Essen und ging mit ihnen oft picknicken. Yu fühlte sich gerettet, dass Deniz solche Freundin hatte.