Begegnung 10

Yu hatte eine einfache Vorstellung von der Welt, dass sie von den gleichartigen Menschen spontan gebildet worden war, wobei jeder Staat nur minimale Interaktion zwischen verschiedenen Leuten mit verschiedenen Hinterggünden hatte. Jedoch hat er nun gewusst, dass solche Idee typisch für jemanden war, der aus einer geschlossenen Gesellschaft wie der japanischen stammte. Yu fühlte sich über eigene Dummheit verbittert. In der realen Welt waren die Menschen unabhängig vom eigenen Willen in internationalen Konflikten immer verwickelt und sie überschritten ständig die Grenzen, um zu überleben. Die Menschen aus verschiedenen Kulturen bezogen sich immer einander, wie verhedderte Fäden. Auch die Menschen in Deutschland haben in Wirklichkeit unterschiedliche Ursprünge, und insbesondere in Anbetracht der einzigartigen Beziehung zu den Juden war die Lage der Menschen heikel. Im Vergleich dazu war die Situation um Yu sehr einfach, weil er einfach ein ausländischer Student war.

Deniz’ Dasein in diesem Land schien in diesem Sinne nicht einfach ein Zufall zu sein. Ohne den Zusammenbruch des Osmanischen Reiches und die Gründung der Türkischen Republik durch Atatürk oder den Nachkriegswohlstand in Deutschland, ernste politische und wirtschaftliche Probleme in der Türkei wäre es nicht möglich, dass sie nach Deutschland kommen konnte. Das galt für Yu. Wenn es langjährige kulturelle, politische oder militärische Beziehungen zwischen Japan und Deutschland seit der Meiji-Ära nicht gegeben hätte, hätte Yu keine Möglichkeit gehabt, den Weg nach Deutschland zu finden. Yu schien, dass viele der scheinbar zufälligen Begegnungen zwischen Menschen in Wirklichkeit historisch bedingt waren. Einem einfach denkenden Menschen mag die Welt wie ein Zufall erscheinen, aber in Wirklichkeit ging sie nicht so einfach.

Oft unterhielt Yu sich lange Zeit mit Pablo und Anastasia, wenn er sie zufällig im Unigebäude traf, aber sie wurden nach und nach seltener gesehen. Die Tatsache, dass sie bereits mit einem jungen Deutschen verlobt war, erschwerte ihre Beziehung jeden Tag. Der Verlobte lebte in einer entfernten Stadt in Deutschland und sie besuchte ihn von Zeit zu Zeit. Anastasia und Pablo sahen sich jedoch fast jeden Tag. Die beiden litten unter der zunehmend festgefahrenen Beziehung. Anastasia wollte hartnäckig ihrem Freund treu sein und Pablo nicht mehr treffen. Pablo hingegen konnte in Zweifel nicht anders als sich auf ihr Zimmer zu wenden. Wenn er sie sah, verschwand der Schmerz der letzten Nacht wie ein Schatten in der Sonne, und sein Herz brannte, aber sobald sie gegen ihr Willen ihn allein nach Hause schicken wollte, wurde er schnell von einer Welle der Verzweiflung verschluckt und war ihm so bitter zumute, dass er kaum noch atmen konnte. Als Pablo Yu traf, erzählte er ihm von seiner Verzweiflung. Yu war sich seines Leidens bewusst, aber er konnte nur die Hände falten und zusehen, weil er fühlte, dass er an der Schwelle zur Hoffnung stand, ganz im Gegensatz zu Pablo. Er dachte, dass es sündhaft wäre, wenn er Pablo nur oberflächlichen Trost bieten würde.

In der Zwischenzeit besuchte Yu von Zeit zu Zeit Deniz in ihrem Studentenwohnheim. In ihrem etwa fünfundzwanzig Quadratmeter großen Raum mit einer einfachen Küche inmitten eines zehnstöckigen Gebäudes, erzählte Deniz Yu von ihrer Familie in Deutschland und ihrer Mutter in der Türkei, während sie in einer kleinen Glastasse Chai zubereitete. Sie sagte, dass ihre Mutter trotz der Einladungen ihrer Familie allein in einer kleinen Stadt am Schwarzen Meer lebte und Gemüse anbaute, und dass sie Verwandte in der Nähe hatte, die ihr halfen. Die Familie von Deniz kehrte jedoch nur gelegentlich in die Türkei zurück. Deniz hatte auch einen älteren Bruder, der bei ihrem Vater lebte. Sie erzählte Yu, dass junge Frauen in der Türkei unter strenger Kontrolle der Männer stehen, und wenn sich ein junges Mädchen mit einem Mann verabredet, wird sie heimlich von jemandem aus ihrer Familie verfolgt. Sie sagte auch, dass das gerade geheiratete Paar am Morgen der Hochzeitsnacht den Nachbarn die blutverschmierten Laken durchs Fenster zeigen müsste. Diese ethische Verhaltensnorm erinnerte Yu an die sexuelle Moral der altertümlichen Zeit, jedoch erschien die islamische Ethik noch wirksam wie ein Käfig aus schwerem Eisen. Als Deniz ihm halb im Scherz, halb im Ernst sagte: “Wenn du nicht aufpasst, könntest du durch das Halbmondschwert meines Bruders getötet werden”, sah er ihr erschrocken in die Augen. Ihre Augen lächelten, aber sie sahen aus, als wollten sie wissen, was Yu von ihr hielt. Gleichzeitig wusste Yu, dass sie sich in der Tat wegen Yu in Gefahr begab.

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