Begegnung 7
Der Sommer in Deutschland dauerte nur wenige Wochen. Jedoch wurde es oft ziemlich heiß. Klimaanlagen schienen in Deutschland so gut wie unbekannt zu sein. Selbst Hotels waren nicht mit Klimaanlagen ausgestattet. Es hieß, dass sogar von japanischen Autos, die nach Europa exportiert waren, die Klimaanlagen absichtlich entfernt wurden. Trotz starker Sonneneinstrahlung war die Luft trocken, so dass es im Zimmer nicht unangenehm war. Hier und da, auf Plätzen und in Parks, liegen Frauen und Männer mit nacktem Oberkörper im Park, als bedauerten sie den kurzen Sommer, der gerade begonnen hat. In Deutschland machte nicht das ganze Land zur gleichen Zeit Urlaub, sondern die Schulsommerferien waren in jedem Bundesland um einige Wochen versetzt, so dass nicht alle deutschen Städten im Sommer nicht völlig tot aussah wie in manchen Ländern. Berlin war vor allem eine geopolitisch wichtige Stadt, in der viele junge Menschen aufgrund von Maßnahmen wie der Befreiung von der Wehrpflicht lebten, so dass überall viel los war. Die Stadt war in einem Maße wiederauferstanden und aufgeblüht, dass man sich kaum vorstellen kann, dass sie im letzten Krieg vor vierzig Jahren völlig zerstört wurde. Wer hätte damals gedacht, dass Ausländer wie Yu jede Nacht Diskotheken besuchen würden? Yu fühlte sich, als wäre er irgendwie in eine große Geschichte eingetreten, und er fragte sich, ob die jungen Leute vor Jahrzehnten auch ihre eigene Art gefunden hatten, sich auf diese Weise zu vergnügen.
Man fühlt sich mit eigenem Heimatland verbunden, weil man normalerweise dort menschliche Verbindungen haben. Die Rückkehr in die Heimat wird sich nur dann leer anfühlen, wenn man dort keine Freunde oder Familie mehr hat. Menschliche Verbindungen sind immer konkret. Man könnte ein Land plötzlich vertraut finden, oder umgekehrt könnte man ein Land als unakzeptabel betrachten. Länder wie Deutschland, China, Korea, Afrika, Frankreich, Argentinien und Costa Rica hatten bis dahin nichts mit Yu zu tun, aber jetzt tauchten sie in Yu als etwas Konkretes auf, weil er einen persönlichen Bezug hatte, auch wenn es nur ein kleiner Teil eines größeren Ganzen war.
Ein Bild eines Landes, das man hat, ist sicherlich subjektiv, was wohl sehr wenig mit der Realität zu tun hat. Yu hatte auch durch persönliche Beziehungen Eindrücken von mehreren Ländern. Aber niemand wird jemals endgültige Realität eines Landes wissen können. Ein Bild eines Landes gleicht eher einem Wunschbild, von dem man träumt. Selbst wenn jemand Yu aufforderte, sein japanisches Wesen zu zeigen, hätte er nicht tun können. Er kam zwar aus Japan, aber konnte er das gesamte Bild eigenes Landes nicht beschreiben, weil es kein solches existiert. Ein Bild einer Nation besteht nur aus Unterschieden, die man sich ad hoc vorstellt, so dass ein Nation sich von den anderen unterscheiden lässt. Man schafft die Unterschiede unendlich, um die Eigenschaften eigenes Landes betonen. Letztlich ist der nationale Charakter oder die Kultur eines Landes nichts anderes als eine Tautologie. Es schien Yu, dass es nur ein Mechanismus der Ausgrenzung von Nationen und unterschiedlichen Kulturen ist, der die Gemeinsamkeiten ignoriert.
Deniz kam aus einer anderen Kultur, und Yu kannte die Sitten und Denkweisen ihrer Kultur nicht. Aber für Deniz war es dasselbe. Yu war für sie ein Fremder. Aber auch wenn Bräuche von den beiden unterschiedlich waren, könnten sie sich miteinander verständigen. Das Treffen von Menschen aus verschiedenen Kulturen bedeutet nicht unbedingt einen Zusammenstoß noch eine Konfrontation, sondern eher eine Begegnung, durch ihre Unterschiede eine neue Welt kennen zu lernen. Was Yu an Deniz anzog, war nicht nur ihre kindliche Offenheit und Heiterkeit, sondern auch ihre latente, unwiderstehliche Unabsehbarkeit. Sicher spürte sie auch Andersartigkeit, die Yu hatte.
In den letzten Tagen hatte Yu das Gefühl, dass sein Leben, das zuvor diffus und vage und ohne Ziel umhergetrieben war, plötzlich kohärent wurde. Er spürte auch, dass er sich konzentriert und seine Energien aus seinem Körper auf ein Ziel hin freigesetzt wurde. Er erinnerte sich am Zug, den er zum ersten Mal in Deutschland nahm. Er fuhr kräftig und geräuschlos ab, ohne Yu es merkte. Er fühlte sich, dass ein neues Leben, das er lange ahnte, ohne sein Wissen begann. Gleichzeitig überfiel ihm eine Hauch von vager Angst, was wohl in der Zukunft mit ihm geschehen würde. Aber in seinem Hochgefühl verschwand es schnell wie eine vorübergehende Blase.
Nach diesen traumhaften Tagen fuhr der Bus mit den Studenten wieder nach Westdeutschland los. Yu und Pablo saßen wieder nebeneinander. Deniz und Anastasia saßen auch ein wenig vor ihnen zusammen. Gelegentlich bürsteten sie sich ihr langes Haar mit den Händen, banden es zusammen und entwirrten es wieder, was den beiden Jungen hinten jedes Mal beunruhigte, gleichzeitig konnten die beiden den Blick davon nicht abwenden.