Anfang 23

Yu hatte erwartet, etwas Neues zu erleben, aber ihm wurde schwer zumute. Depressiv fuhr er wieder einmal stundenlang mit dem Bus von Ostdeutschland nach Hause. Er hatte ein Gefühl, dass die Welt so anders war. Japan befand sich mitten in einer ökonomischen Blase und die Aktienkurse stiegen. Yu’s Vater war in den Ruhestand gegangen, aber weniger als sechs Monate bekam er eine Stelle als Buchhalter in einem kleinen Krankenhaus. Die Grundstückspreise stiegen weiter, die Menschen kauften Land und Aktien, und das Leben der Menschen schien sich von Jahr zu Jahr zu verbessern. Die westdeutsche Regierung war so großzügig wie immer und übernahm die Lebenshaltungskosten für Yu. Auch die Lehrer waren freundlich, und die Studierenden lebten ihr Leben, wie sie es wollten. Doch die Welt war nicht so überall friedlich. Zu dieser Zeit war der Kalte Krieg noch in vollem Gange. Über seine Frau lernte Yu zwei junge Studentinnen aus dem Teheran, wo damals täglich bombardiert wurde, kennen. Immer wenn er sie in der Uni traf, sah er Tränen an ihren Augen, weil sie um ihre Eltern besorgt war.

Der Krieg zwischen Iran und Irak wollte durch die direkte und indirekte Beteiligung der USA, der Sowjetunion, China und der Nachbarländer im Nahen Osten kein Ende nehmen. Die Welt war nicht nur in Ost und West geteilt, sondern schien überall gegeneinander in Konflikt zu stehen. Yu war beeindruckt, dass die Welt so unterschiedlich aussah, je nachdem, wo man lebte. Aber auch wenn sie am selben Ort leben, wie die iranischen Mädchen und Yu, sah die Welt so unterschiedlich aus, je nachdem, worauf Aufmerksamkeit gerichtet war. Die Mädchen kannten den Frieden, den Yu in Japan genoss, nicht, und Yu kannte die täglich zu zerstörende Stadt und ihre Schrecken der Mädchen nicht. Yu spürte erneut den merkwürdigen Widerspruch zwischen der körperlichen Nähe und der geistigen Einstellung, den er auch bei Jean gespürt hatte, einen Widerspruch, den er in Japan nie gespürt hatte. Macht solche Spaltung Verständigung zwischen Menschen für immer unmöglich? Gibt es auch die Kluft zwischen Menschen, die eine gleiche Kultur teilen? Vielleicht könnte es sich letztlich um ein Grundproblem des Menschen handeln. Man glaubt, wenn man aus einem gleichen Kultur stammt, dass man gleiche Werte teil. Jedoch hat jeder eigene Kultur in sich. Die gemeinsame Kultur kann den Abgrund der individuellen kulturellen Unterschiede nur verdecken. Andererseits kann es für uns auch ein Segen sein, einen solchen Schleier des vermeintlichen gemeinsamen Verständnis zu haben, weil, auch wenn es nur oberflächlich ist, man Gefühl haben könnte, dass man einander versteht. Gleichzeitig verdeckt sie aber auch eine wahre existenzielle Kluft zwischen den Menschen.

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