Anfang 8

Yu lernte einen Indonesier namens Wei kennen, dessen Vorfahren früher aus China kamen. Er sagte, dass er nach Deutschland kam, um Englisch weiter zu studieren, nachdem er zu Hause Fremdenverkehr-Wissenschaft studiert hatte. Yu hörte nie ihn Englisch sprechen, jedoch konnte er Deutsch im Sprechen und Schreiben sehr gut. Er war von Natur her fähig, sich einfach Freunde zu machen, und lud Leute zum Essen bei ihm ein. Damit konnte er schnell viele Deutsche und Nicht-Deutsche kennenlernen. Im Vergleich zu den Deutschen, die oft einen förmlichen und ernsten Eindruck gaben, war er so offen und vorurteilsfrei, dass man gleich jede kulturelle oder religiöse Distanz aufheben konnte. Bei ihm fühlte man oft eine Art Scham, wenn man grundlose Überlegenheit haben würde, die man den Leuten aus Entwicklungsländern zu hegen pflegte.

Ironischerweise wuchs in Yu nun ein gewaltiges Interesse an Asien oder nicht-europäischen Bereichen, während Yu sich bis dahin nur mit Deutschland und kaum mit Asien beschäftigte. Vor Anwesenheit von den Studenten aus mehreren Ländern, die sich manchmal ausgelassen auseinandersetzen oder manchmal Unsinn erzählen, verloren die nationalen Grenzen oder kulturellen Differenzen bei ihm immer mehr an Bedeutung. Man kann am Ende eigenen Geburtsort oder kulturelle Umgebungen nicht wählen, weil alles zufällig geschieht. Manchmal hält man zwar die Verhaltensweise der anderen für unakzeptabel. Yu dachte jedoch, dass wir alle letztendlich durch Zufälligkeiten andersartig geformt werden. Und diese Andersartigkeit gibt uns unsere einzige Persönlichkeit. Dabei gilt es zuerst, eigene Andersartigkeit zu erkennen, dann sie zu relativieren, damit wir die anderen Menschen möglichst gerecht schätzen kann.

Ist es möglich, dachte Yu, ob man vielleicht zu einem Zustand von tabula rasa zurückkehren, oder, auch wenn es nicht möglich sein würde, mindestens sich von eigener kultureller Voreingenommenheit mehr oder weniger befreien könnte. Yu stellte sich ein riesiges Land vor, in dem verschiedene Leute aus verschiedenen Ländern friedlich und glücklich zusammen leben. In allen Fällen sind wohl sogenannte kulturelle Eigenschaften ein unbegründeter temporärer Glaube, der meistens aus zufällig zusammengestellten Teilchen von Medienberichten stammt.

Sein Weltbild schien zusammenzubrechen wie Dominosteine. Oder besser gesagt, begann es, erst ein mehr realitätsmäßiges Weltbild zu bilden. Er fühlte, als ob er so lange Zeit in einen dunklen leeren Raum gesperrt war und sinnlos gelebt hatte. Jedoch kam ihm nun die Welt so vielfältig und bunt zum Vorschein und zwar so voll von Sinn. Kann irgendein Zufall ihn auch von seiner kulturellen Bestimmung befreien, in die er hineingeboren ist? Kann er aus seinem deterministischen Dunkelzimmer ins freie Licht fliehen? Was könnte ihm den Mut dazu geben?
Yu versuchte, sich seine neue Persönlichkeit vorzustellen, die völlig anders als seine jetzige ist. Wie soll er dann aussehen und was will er dann tun? Vergißt er alles, was er bis dann getan hatte? Wie würde er seiner alten Persönlichkeit gegenüber stehen?

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