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Einige Wochen später war Yu im Klassenzimmer ein bisschen verwirrt. Fast alle Veranstaltungen, wo man Scheine machen konnte, waren Seminar mit von 20 bis 30 Studenten. Man musste ein Thema wählen und einen einstündigen Referat halten, dann eine etwa zwanzig-seitige Hausarbeit schreiben. Dafür musste man in kürzer Zeit nicht nur auf Deutsch, sondern auch auf Englisch viel lesen. Yu war sogar nicht sicher, ob er der Diskussion mit den anderen Studierenden folgen konnte. Wie kann er langen Auseinandersetzungen nach einem Referat standhalten? Vertieft in solchem Nachdenken war alle Themen, die der Professor vorlag, weggenommen. Yu fühlte sich ziemlich entmutigt, als ob er einen Zug verpasst hätte, der gar nicht halten wollte, obwohl er halten sollte. Der Professor, der Yu betreuen sollte, war jedoch so nett, dass er arrangiert, was Yu machen sollte. Wohl dachte der Professor, dass Yu nicht so gut sprechen, jedoch lesen und schreiben konnte. So lud er ihn ein, neben einigen Seminaren sein Kolloquium für Doktoranden zu besuchen. Diese Uni hatte die erste Fakultät der Soziologie in Europa und auch viele berühmte Professoren. Davon war Niklas Luhmann der berühmteste. Außerdem lehrten viele bekannte Leute. Das Gebäude der Uni war sehr funktionell und schlicht mit Glas und Beton gebaut. An der beiden Seiten eines langen Hauptgebäudes mit einer großen Gewölbedecke, wo es Buchhandlung, Reisebüro, Schreibwarengeschäft oder Süßwarengeschäft usw. gab, grenzten jeweils fünf Gebäude der verschiedenen Fakultäten vertikal nach außen an. Hinter dem Hauptgebäude gab es Mensa und Sporthalle. Der Boden waren mit schwarzen rutschfesten Hartgummi belegt. Von der Haupthalle konnte man durch den Ausgang ins Gebäude der anderen Fakultäten gehen. Im Vergleich zu anderen alten deutschen Universitäten fehlte der neuen Universität traditionelle und historische Dimension, jedoch konnte man überall Lebendigkeit und optimistische Aussicht auf Zukunft fühlen. Die Systemtheorie von Luhmann erreichte damals seinen internationalen Kulminationspunkt. Deshalb besuchten viele neugierige Studenten seine Vorlesung, aber für die meisten, die keine Vorkenntnissen hatte, fast unverständlich. Er lud auch den berühmten Frankfurter Soziologe Jürgen Habermas ein und organisierte einige Veranstaltungen an der Uni. Zweifellos standen die beiden in der Mitte der Welt der Soziologie, wessen sie sehr gut bewusst waren.

Der Anteil von ausländischen Studentinnen und Studenten an den deutschen Hochschulen war damals fast um 5 Prozent geschätzt. Asiaten wie Chinesen oder Koreaner waren schon überall. Yu lernte auch einige Koreaner und Chinesen kennen, weil sie sich wegen physikalischer Ähnlichkeit oft verwandt fühlten, obwohl sie in Wirklichkeit ziemlich anders waren. Sie luden ihn oft zum Essen ein. Zu jener Zeit konnten Chinesen ohne finanzielle Unterstützung von außen im Ausland nicht studieren. Auch wurde es gesagt, dass sie immer vom Spionen der chinesischen Regierung überwacht waren. Yu‘s Freund, Xango, war Hochschullehrer in China und war darauf stolz, dass er die Maobibel auswendig sagen konnte, obwohl die Kulturrevolution schon lange vorbei war. Yu sah ihn zuerst in der Bibliothek: Jemand sprach pausenlos hinter den Bücherregal. Yu wunderte, wer so laut sprach und sah einen kleinen dunklen Asiaten mit einem deutschen Studenten reden. Yu war sehr imponiert, weil sein Deutsch so fließend war. Gleich später wurden sie gute Freunde. Xango sprach gern von der Kulturrevolution ironisch, aber nicht so total negativ, weil er erfolgreich in dem System war. Auf jeden Fall hat es nun ihm gelungen, aus China wegzulaufen, um Freiheit zu genießen. Zuerst dachte Yu, ob er Spion sein könnte. Jedoch versuchte er, sich von anderen Chinesen zu distanzieren, und freundete sich fast ausschließlich mit den Deutschen an.

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