Verwandlung
Einen Sommertag, als sich alle Bäume immer dichter belaubten, flog ein junger Mann ins Ausland ab. Der so helle und ultramarinblaue Himmel, den er durchs kleine Fenster des Flugzeugs sehen konnte, versetzte ihn wegen scheinbar angstvollen Dünnheit der Luft in Schrecken. Die Spitzen der Flügel schnitten die kalte Luft ab und spritzte Kondensstreifen gerade hinten heraus und funkelte grell silbern. Tief unter den Flügeln umgaben orange und rötlich gefärbte Wolken den Horizont und der hellblaue Meeresspiegel verbreitete sich unter den großen und kleinen weißen Wolken wie ein ausgelegter Teppich mit kleinen Wellenkronen. Das Flugzeug schlug den Weg nach Europa ein.
Es war mehr als vor 30 Jahren. Warum soll man eine so alte Geschichte erzählen? Wer will nun von einem unbekannten jungen Mann wissen? Jedoch gibt es dafür einen guten Grund. Denn das ist nicht bloß eine Geschichte von einer alten Zeit, sondern eine Frage für uns alle. Es ist nicht einfach, die Frage in einem Wort darzustellen. Es geht etwa darum, ob man auf eine andere Weise leben kann als das jetzige Leben oder ob man einfach nur ein Leben lebt, wie man sich normalerweise vorstellt. Mit anderen Worten, eine Frage, ob man sich im Leben völlig in einen anderen transformieren kann. Hat man wirklich einen konsequenten Charakter in sich selbst oder mehrere Persönlichkeiten in sich? Jedoch, wie kann man dann die Transformation oder die Metamorphose erkennen und wie sehen die Kriterien der Verwandlung vom Leben aus? Es klingt merkwürdig, jedoch waren diese Fragen sehr alt in der Menschheitsgeschichte. Es sieht wie Prämissen des Syllogismus aus: Wenn die Prämisse korrekt ist, ist die Schlussfolgerung auch korrekt. Wenn jedoch die Prämisse wahrscheinlich ist, ist die Schlussfolgerung auch wahrscheinlich. So müssen wir erst fragen, wie ein Leben definiert wird.
Man kommt zur Welt und wächst auf, wobei sehr stark vom Ort bedingt. Man kann den Ort genießen, aber könnte bald vom Ort gefesselt fühlen und die Sehnsucht nach einem anderen Leben hegen. Aber man kann nicht immer den Wunsch erfüllen, wenn man auch einen anderen Ort aufsucht. Es ist nicht einfach, ein besseres Leben zu finden als man jetzt hat. Zwar gibt es Leute, die keine ernste Unannehmlichkeit vom Ort, wo sie wohnen, fühlen. Jedoch, warum empfindet man oft den Verdacht auf eigenes Leben und warum glaubt man, dass es ein besseres Leben geben muss. Das bedeutet nicht unbedingt Versagen der Sozialisation. Es muss dafür eine tiefe und primitive Begierde der Menschen sein. Es könnte eine scheinbar schlummernde, aber noch in der Tiefe unsres Bewusstseins lauernde Lust zum Wandern sein, die man wohl von unseren Vorfahren vererbt hat. Oder sind es Herrschsucht, Geldgier, Fleischeslust, Habgier oder Wissbegier, was grenzenlos verlangt, was man noch nicht hat. Zwar stellen die menschlichen Neigungen ein breites Spektrum dar: einer gibt sich mit dem nächtlichen warmen Bett zufrieden, während ein anderer durch einen unrealistischen Traum zugrunde geht.
Jedoch, dass man ein anderes Leben wünscht, bedeutet nicht, dass man wünscht, eine vollkommen andere Person zu werden, sondern man will sich in derselben Persönlichkeit nur glücklicher fühlen oder stärker und besser als früher werden. Wenn man seine ursprüngliche Persönlichkeit ganz verlieren würde, könnte man nicht mehr erkennen, ob man wirklich glücklicher geworden ist oder nicht, obwohl es eine Erlösung für die sehr leidenden Leute sein könnte. Dabei würden sie freilich die Tatsache, dass sie litten, vergessen.
Seit alten Zeiten träumte man von Transformation von sich selbst zu jemand anderem und erzählte die Geschichte von der Metamorphose. Ovids “Metamorphosen” zufolge verändert Jupiter seine Erscheinung beliebig, wie ein Schwan, Tiere, andere Götter oder selbst eine Wolke. Aber bleibt seine Persönlichkeit unverändert. Io, die von Zeus in eine weiße Kuh verwandelt wurde, oder Kallisto in der Gestalt einer Bärin werden weitgehend vom animalischen Trieb herrscht, jedoch behalten sie immer noch knapp menschliche Erinnerungen.
Die Metamorphose findet nicht mit menschlichem Willen statt, sondern lässt sich von spielerischen Launen der Götter verursachen. Das macht das Schicksal der Menschen. Kann man nach der Verwandlung noch wie Zeus seine eigene Identität konsequent aufrechterhalten? Oder wird man vollkommen der göttlichen Willkür abgeliefert, ohne eigenes kontinuierliches Ich? Oder kann man trotz des sich stets verwandelnden Milieus kreatives und kontinuierliches Selbst etablieren?